Der große Jäger

Das erste Gedicht dieser neuen Serie, verfasst am 4.Oktober 2005, zeigt viele der Wesenszüge von Sri Chinmoys Lyrik:

O, who am I
And what is my duty?
I am a hunter
Of God’s God-Beauty.

Ach, wer bin ich,
Und was meine Pflicht?
Ich bin ein Jäger
nach Gottes schönem Gesicht.

Mit (im englischen Original, d.Übers.) nur 17 Worten oder 20 Silben Länge ist Sri Chinmoys Vierzeiler in typischer Weise kompakt. Durch dieses Gedicht wogen keine überflüssigen Adjektive oder pathosgeladenen Verben. Und dennoch enthüllt gerade seine Einfachheit Bemerkenswertes. Zuallererst ist da eine Frage, mit der Sri Chinmoy dieses Gedicht - und bedeutsamerweise auch die ganze Serie - eröffnet, nämlich die ewige Frage aller sprirituellen Sucher: “Wer bin ich?” Durch die Jahrhunderte haben spirituelle Meister diese wichtigste aller Fragen entsprechend ihrer eigenen inneren Bewusstwerdung oder Verwirklichung beantwortet. Die zugleich erhellende und rätselhafte Antwort, die uns in den Veden übermittelt wird, lautet: “Tat tvam asi” - “Dies bist du”.

Sri Chinmoys Antwort ist, oberflächlich betrachtet, weniger esoterisch. Es mag uns sogar etwas schockieren, zu lesen: “Ich bin ein Jäger”. Dies widerspricht unseren gewohnten Erwartungen an die Natur und die Pflichten eines spirituellen Suchers. Und es erfüllt uns mit starker Neugierde, wie der Dichter wohl dieses archetypische Bild mit der Suche nach innerer Wissem versöhnen mag.

In der vierten Zeile des Gedichts liefert uns der Dichter eine Erklärung für seine Wortwahl, indem er sich als Jäger nach Gottes Schönheit zu erkennen gibt. Die irdische Körperlichkeit des Wortes “Jäger” steht nun eindrucksvoll neben der himmlisch-ätherischen Ausstrahlung von Gottes Schönheit. Im Verlauf des Gedichts steuert das Wort “Jäger” die Dynamik und Bewegung bei, die normalerweise von einem Verb ausgeht. Es impliziert, dass der strebende Mensch nicht nur Gottes unvergleichliche Schönheit sucht und erblickt, sondern sie irgendwie erobert und vereinnahmt, als ob er nach einer Beute jagte.

Während das Bild zurückhorcht in eine weniger komplexe Welt, in der die Menschen für ihr Überleben auf ihre Jägdfähigkeiten angewiesen waren, hat Sri Chinmoy die Beute in etwas unglaublich Hochfliegendes und Erhabenes verwandelt. Das Drama der menschlichen Suche nach dem Göttlichen wird in diesen zwei Zeilen mit seltener Kraft und Eindrücklichkeit inszeniert.

Auf der auditiven Ebene wird der stark maskuline Zug des Bildes “Jäger” durch die weiblichen Reime “duty” und “beauty” abgemildert. Vielleicht werden wir, wenn auch unbewusst, daran erinnert, dass es sowohl in der griechischen als auch in der römischen Mythologie die weiblichen Göttinnen (Artemis bzw. Diana) sind, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet, als Jägerinnen dargestellt werden. Dass sie daneben auch die göttliche Mutter des Universums darstellen, baut einer allzu engen Auslegung der Worte vor.

Es ist auch sehr bezeichnend für Sri Chinmoy, dass er die eröffnende Frage innerhalb dieses Miniatur-Gedichts zu beantworten weiß, und sie nicht einfach rhetorisch stellt um sie dann in unserem Bewusstsein offen zu lassen. Er ist ein visionärer Dichter und seine Gedichte sind beides, Suche und Enthüllung. Durch seine Aphorismen, seine Definitionen, seine souveränen Aussagen und seine Antworten erweitert er unser Verständnis innerer Wirklichkeiten. Dies ist seine Absicht, und um dies zu erreichen identifiziert er sich gerne mit den gängigen Lebenserfahrungen eines jeden spirituellen Suchers.

Die Stimme seiner Gedichte ist selten seine eigene. Er artikuliert vielmehr ein universelles Ringen nach Weisheit. Lässt man das vorliegende Gedicht auf sich wirken, mit seinem sonoren und klaren jambischen Rhytmus, so kann man diese kosmischen Echos beinhahe hören, die hinaustönen, um die unausgesprochene Sehnsucht zahlloser menschlicher Seelen einzufangen.

Wenn wir annehmen, dass die Frage “Wer bin ich?” (“Who am I?”) den Kern aller menschlichen Existenz trifft, dass sie den Anfang unserer bewussten Suche nach Erleuchtung darstellt, dann ist es auch nachvollziehbar, dass der Dichter seine Antwort in den Sternen findet, in der Konstellation des Großen Jägers, der in der Weite des Nachthimmels seine Bahn hat. Deutet man das Gedicht in dieser Weise, so gibt dies sowohl der Frage des Menschen als auch der göttlich erleuchteten Antwort eine Kontur von Ewigkeit. Wie außerordentlich treffend wird das ganze Gedicht in diesem Kontext!

Es gibt also mehrere Ebenen der Interpretation und jede steigert nochmals die hochverdichtete Kraft des Gedichts. Wir erkennen, dass Sri Chinmoys außerordentlich einfache Schöpfungen in der Tat sehr bewusst gestaltet sind, um so viel Bedeutungstiefe wie möglich in so wenigen Worten wie möglich zu konzentrieren.