Spiritualität als Dichtkunst – über Sri Chinmoys Lyrik

Das dichterische Werk Sri Chinmoys ist unabdingbar mit seiner eigenen Spiritualität, seiner eigenen Verbindung mit der inneren Quelle verbunden. Wir finden in seinen Schriften den Ausdruck "inner pilot" und damit ist genau dieser "innere Lotse", nämlich Gott oder das eigene Höchste Selbst, gemeint. Von Kindesbeinen an fühlte Sri Chinmoy eine intensive innere Sehnsucht nach Gott. Er bezeichnete diese Sehnsucht oft als "inner cry", als "inneren Schrei" oder "inneres Flehen". Im Sri Aurobindo Ashram, in dem er von seinem dreizehnten bis dreiunddreißigsten Lebensjahr lebte, hatte er die Möglichkeit, viele Stunden täglich zu meditieren und einen tiefen Zustand der Selbst- oder Gottesverwirklichung zu erreichen. Oft verwendet Sri Chinmoy statt "Gott" den Begriff "Supreme". In der englischen Alltagssprache bedeutet "Supreme" einfach "das Höchste/am höchsten". Sri Chinmoy hat daraus sein eigenes Mantra gemacht, seine eigene Anrufung jener alles umfassenden höchsten Existenz jenseits aller Götter und Schöpfungen. Supreme ist für ihn zugleich der Schöpfer und die Manifestation dieses Schöpfers, das was uns allen innewohnt und doch alles transzendiert. Schließlich dasjenige, was sich selbst in jedem Moment transzendiert, das wahrhaft Höchste. Sri Chinmoys Lyrik ist die Lyrik des "Supreme" und für den "Supreme".

Ein Mystiker, der über die Grenzen des Verstandes hinausreist, hat oft Schwierigkeiten, seine spirituellen Erfahrungen mit anderen zu teilen. Im höchsten meditativen Zustand, dem Samadhi, wird immenser Friede und Glückseligkeit erlebt, aber es ist nahezu unmöglich, diese Erfahrung zu übermitteln, wenn man wieder ins weltliche Bewusstsein zurückkehrt. Der Mystiker steht vor dem Paradox, Dinge in Worte zu fassen, die jenseits von "Verstand und Form" liegen. Nichtsdestotrotz drückte Sri Chinmoy seine reichen spirituellen Erfahrungen zunächst durch Gedichte und später durch Lieder aus. Seine ersten Gedichte waren in seiner Muttersprache Bengali verfasst, die ein reiches Gewebe aus mystischer Sprache und fließenden Rhythmen besitzt. Bald darauf begann er auch Gedichte in englischer Sprache zu verfassen, während er sich die traditionelle englische Metrik und Reim aneignete.

The Absolute

No mind, no form, I only exist;
Now ceased all will and thought;
The final end of Nature's dance,
I am it whom I have sought.

A realm of Bliss bare, ultimate;
Beyond both knower and known;
A rest immense I enjoy at last;
I face the One alone.

I have crossed the secret ways of life,
I have become the Goal.
The Truth immutable is revealed;
I am the way, the God-Soul.

My spirit aware of all the heights,
I am mute in the core of the Sun.
I barter nothing with time and deeds;
My cosmic play is done.

Sri Chinmoy - "The Absolute" aus "My Flute" (veröffentlicht 1972)

Im Höchsten

Mein Dasein trübt nicht Form nun noch Verstehen,
da Wille und Gedanken ganz erloschen sind,
am Ziel der Tanz, der Tanz der Allnatur,
am Ziel der Suche ich mich find.

Von höchster Seligkeit durchtränkt
erstreckt es sich - von niemandem gewusst.
Hier sammle Ruh ich lang ersehnt -
und bin des Einen Antlitz mir bewusst.

Durchschritten sind die Pfade stillen Lebens,
das Ziel nun selbst ist mein Gewinn,
gewonnen auch unwandelbare Wahrheit -
ich bin der Weg, Gottseele, Sinn.

Mein Geist erschwang die Höhen aller Höhen,
der Sonne Herzen ist mein stummer Hort,
bewegt durch nichts in Zeit und Ort -
mein kosmisch Spiel vollendet ist gesehen.

Sri Chinmoys frühe Gedichte sind durch einen traditionellen und eleganten Stil charakterisiert. Die Themen der Gedichte berühren ein weites Spektrum von spirituellen Empfindungen und Erfahrungen. Diese schließen natürlich die Ekstase und Schönheit der inneren Kommunikation mit dem Göttlichen ein. Sie beinhalten jedoch auch die Kämpfe und Schwierigkeiten, auf die der Sucher trifft, wenn er versucht, über die Begrenzungen des verstandesmäßigen Denkens und der menschlichen Natur hinauszugehen. Obwohl solche Gedichte scheinbar große Hilflosigkeit ausdrücken, enthalten sie doch auch eine große Süße und den beruhigenden Trost, dass solche Erfahrungen durch Gottes liebevolle Gnade überwunden werden können. Die Lyrik Sri Chinmoys bestätigt mit großem Nachdruck, dass Leid und Schwäche nicht die ganze Summe menschlicher Erfahrung sind. Die erhabenen Äußerungen seiner transzendentalen Dichtung sind ein Versprechen der Erfüllung, zu der wir bestimmt sind.

No more my heart shall sob or grieve.
My days and nights dissolve in God's own Light.
Above the toil of life my soul
Is a Bird of Fire winging the Infinite.

Auszug aus "Revelation" aus "My Flute" von Sri Chinmoy

Mein Herz soll nicht mehr schluchzen oder trauern.
Tage wie Nächte zerfließen in Gottes Eignem Licht.
Über der Mühsal des Lebens durchschwingt meine Seele
Als Feuervogel die Unendlichkeit.

In späteren Jahren entwickelte Sri Chinmoy eine andere Art von Musikalität: der Fluss und der Brennpunkt seiner Gedanken sind meist in einer drei- bis vierzeiligen Strophe enthalten, eher ein einfacher Aphorismus oder etwa im Stil eines Haikus. Ein wiederkehrendes Thema in diesen kurzen Gedichten ist die spirituelle Stärke, die darin liegt, dem Herzen mehr zu vertrauen als dem Verstand. Der intellektuelle Verstand teilt, kritisiert und urteilt von Natur aus, aber scheitert fast immer darin, sich mit einem höheren Bewusstsein zu identifizieren. Es ist nicht so, dass der Verstand keine Rolle spielen darf, aber das spirituelle Bewusstsein, das wir suchen, kann am einfachsten vom Herzen erreicht werden. Das Herz ist von Natur aus der Sitz der Seele und kann sich leicht mit dem transzendentalen Bewusstsein identifizieren.
Es entwickelte sich seine charakteristische poetische Kurzform, in der er seine eigene Philosophie auszudrückte. Seine Gedichte vermitteln hier spirituelle Unterweisung ohne großes Aufheben, indem sie direkt zum Kern der Sache kommen und unnötige mentale Akrobatik vermeiden.

Destroy violence
With your soul's smile.
You will be happy.

Create a new world
With your heart's sympathy;
You will become perfect.
Gedicht Nr. 4577 aus "10.000 Flower-Flames" von Sri Chinmoy

Zerstöre die Gewalt
Mit dem Lächeln deiner Seele.
Du wirst glücklich sein.

Erschaffe eine neue Welt
Mit der Sympathie deines Herzens;
Du wirst Vollkommenheit erlangen.

Außer als bekannter Dichter manifestierte Sri Chinmoy seine Spiritualität auch noch in anderen Formen wie in der Musik, der Kunst, der Literatur und dem Sport. Er ist ein Beispiel für das grenzenlose Potential, über das wir verfügen, wenn wir in Kontakt mit Gott, unserem eigenen inneren Selbst, bleiben. Sein ganzes Leben über hat er sich der Harmonie in der Welt verschrieben und jenen Inspiration angeboten, die den Pfad der Selbstentdeckung bereisen möchten. Das folgende Gedicht veranschaulicht seinen Wunsch, eine Brücke zwischen dem inneren Himmel und der äußeren Welt zu bauen:

Silence

From the Silence Unknowable
To the Sound knowable I came
To play and sing and dance
With a tiny, fragile frame,
And build a rainbow-bridge
Between Heaven and earth
For my sweet Supreme to travel
And flood all-where His Birth.

Aus "Sail My Hearbeat Sail, Part 1" von Sri Chinmoy (1998)

Stille

Von der unerreichbaren Stille
Zum erreichbaren Klang bin ich gekommen,
Zu spielen und zu singen und zu tanzen
Einen winzig zerbrechlichen Körper angenommen,
Und eine Regenbogen-Brücke zu bauen
vom Himmel zur Erde,
Damit mein süßer Supreme reisen möge
Und Seine Geburt allüberall verströmen werde.