Vorwort der Verfasserin

...aus..."Simplicity and Power: The Poetry of Sri Chinmoy 1971-1981"


Jede Epoche bringt ihren Dichter hervor, jemanden, der die Fähigkeit besitzt, die höchsten Ideale und Ziele seiner Zeit zum Ausdruck zu bringen. Macht man es sich als Literaturkritiker zur Aufgabe, das Werk Sri Chinmoys zu beurteilen, eines Dichters der allerjüngsten Vergangenheit, so steht man in einer ganz und gar anderen Verantwortung als bei der Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller allgemein anerkannter Größe. Der Literaturkritiker hat die Aufgabe, eine Atmosphäre der Empathie zu erzeugen, in welcher diesem dichterischen Werk von zukünftigen Lesern und Kommentatoren begegnet werden kann, und diese Aufgabe geht über eine unmittelbare Antwort auf dieses vielversprechende, gerade erst entstandene literarische Werk weit hinaus. In diesem frühen Stadium der Auseinandersetzung darf der Kritiker nicht allzu zurückhaltend sein. Er muss sich über das von ihm ausgewählte Werk vielmehr so mutig artikulieren, dass es anderen eine Motivation ist, sich dieser Dichtung ebenfalls zuzuwenden, und künftigen Studien ein dienlicher Ausgangspunkt. So kann im öffentlichen Bewusstsein im Lauf der Zeit und durch das Sammeln verschiedener Standpunkte eine Wahrnehmung des dem Dichter innewohnenden Wertes heranreifen. In dieser eingehenden Studie habe ich mich der Herausforderung gestellt, zum einen einen höchst begabten Dichter unserer Zeit zur Diskussion zu stellen, und zum anderen die Grundlage zu legen für dieses Erwachen des öffentlichen Verständnisses.

Der Dichter, um den es hier geht, ist Sri Chinmoy. Zwischen 1971 und 1981 sind in den Vereinigten Staaten dreizehn umfangreiche Gedichtbände im Druck erschienen, in denen über 9000 Gedichte zusammengefasst sind. Es ist hier schon klar, dass wir uns einem Dichter von enormer Schaffenskraft gegenübersehen. Um die Quelle dieser Kreativität zu entdecken, müssen wir einen Blick auf das Leitthema des Dichters werfen. Sri Chinmoy befasst sich in erster Linie mit dem inneren Leben des Menschen. Der Reichtum und die Vielfalt des menschlichen Geistes haben seine Vorstellungskraft gefesselt und veranlassen ihn, Gedicht um Gedicht, die unendlich vielgestaltigen Erfahrungen festzuhalten, aus denen sich unsere spirituelle Reise zusammensetzt. Die Suche nach Wahrheit und Schönheit, das Ringen mit den Grenzen des Denkens und die Vereinigung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen – dies sind die zentralen Themen seiner Gedichte. Sri Chinmoy begibt sich in Kontakt mit den grenzenlosen Möglichkeiten der Seele, indem er seine Inspiration direkt von der Seele bezieht. In der Tat verleiht schon allein der Umfang seinem Werk ein Merkmal von Qualität, sieht man darin den äußeren Ausdruck innerer Geistesfülle. Der Leser dieser Gedichte wird bemerken, dass in ihnen die stark konturierte Individualität eines lyrischen Ich häufig fehlt. Stattdessen spricht eine Stimme zu uns, die von den Zwängen der Persönlichkeit frei ist und zugleich kraftvoll genug, um für einen weiten Teil der Menschheit zu sprechen.

Sri Chinmoy hat die ganze Bandbreite menschlicher Verständigung erkundet, von den dramatischen Formen des Liedes, des Gebets und der Konversation bis hin zur konzentrierten Weisheit des Aphorismus und Sinnspruchs, und er baut sein dichterisches Werk bei all dem auf der einzelnen, hochverdichteten Verseinheit auf. Es ist eine Art mikrokosmische Lyrik. Jeder Vers ist von seiner Struktur her vollständig und von seinen Nachbarn unabhängig. Das Druckbild – so kompakt, dass oft ein einziger Blick genügt – erlaubt es uns, die volle Bedeutung einzeln für sich stehender Gedichte auf eine Weise zu erfassen, wie das bei längeren Werken nicht immer möglich ist.

Doch trotz ihrer formalen Eigenständigkeit nehmen Sri Chinmoys Gedichte aufeinander Bezug. Wenn wir sie in ihrer Abfolge auf uns wirken lassen, wird klar, dass eine weiterreichende Strukturierung nur ihrem wahren Zweck entgegengestanden hätte – und dieser Zweck liegt darin, eine weite, visionäre Landschaft spiritueller Erfahrungen und Verwirklichungen zu entfalten, in der die Seele als der alleinige und strahlende Held vor uns steht.

Indem der Dichter seine visionäre Schau in der Miniaturwelt des Verses verdichtet, schafft er eine einzigartige Spannung zwischen der Kürze der Form und der Weitläufigkeit des Themas. Wo dies aber zu einer gewissen rätselhaften oder unklaren Beschaffenheit der verwendeten Symbole hätte führen können, zeigen Sri Chinmoys Formulierungen große Beherrschtheit und er schafft eine Sprache von beispielhafter Schnörkellosigkeit, Ruhe und Klarheit. Er bedient sich des gesprochenen und meditativen Rhythmus des Englischen und wählt überwiegend Bilder und Metaphern allgemeinverständlicher Stimmungsfarben. Mit diesen Mitteln hat der Dichter eine diszipliniert zu nennende Ausdrucksform hervorgebracht, die ohne aufwendige Ornamentierung auskommt und für jeden Leser, unabhängig von kulturellen Unterschieden, zugänglich ist. Da er wenig Verwendung hat für die vielen rein utilitaristischen Worte, an denen das Englische so reich ist, beschränkt sich sein lyrisches Vokabular auf das kleine Wortfeld, das sich ihm dort bietet, um spirituelle Wirklichkeiten zu umschreiben. Und mehr noch: weil Sri Chinmoys Muttersprache das Bengalische ist mit seinen überwältigenden Feinheiten und Abschattierungen im Ausdruck des Spirituellen, sah er sich der Schwierigkeit gegenüber, mit einem Werkzeug zu arbeiten, das seiner visionären Schau weit weniger geschmeidig folgte und bisweilen ungestalt, widerspenstig oder blass war. Es ist schwer, die ganz besondere Kniffligkeit der Situation des spirituellen Dichters umfassend zu würdigen, der herabsteigt von den Höhen mystischer Schau und den inneren Drang verspürt, die Früchte seiner Erfahrung mit allen Menschen zu teilen. Er bringt Nachrichten aus unbekannten Welten, er sucht händeringend nach Vergleichen aus der bekannten Welt, die seine Erfahrung zugänglicher machen könnten, er strebt danach, in unserer oberflächlichen Welt der Namen und Formen seiner unsichtbaren und doch unzweifelhaften Wirklichkeit klaren Ausdruck zu verleihen.

Um der englischen Sprache eine größere Genauigkeit und Ausdruckskraft abzugewinnen, hat Sri Chinmoy eine Reihe kreativer, aber bisher selten ausgeschöpfter, grundlegender Techniken entwickelt, die ihr eigentlich innewohnen: reiche und anschauliche parallele Satzstrukturen, die Verbindung von Hauptwörtern zu Wortketten und die Verwendung rhetorischer Formen. All dies zusammen erzeugt etwas, das man in der englischen Sprache niemals vermutet hätte: so etwas wie Altäre aus Worten. Diese verdanken ihre Entstehung nicht dem Kampf des Dichters mit der Sprache, sondern seine siegreiche Akzeptanz derselben. Sinken ihre Kräfte, so erweckt er sie neu, indem er Schlüsselwörter voller Würde verwendet. Erweisen sich ihre Bilder als begrenzt, so belebt er sie mit neuartigen Zwischentönen und baut daraus eine Treppe hoch zu den höchsten Gipfeln spiritueller Schau. Wo in der Sprache Kraft vorhanden ist, erhält er sie, wo Energie innewohnt, nutzt er sie. All das, was im Vokabular des inneren Lebens unreif und unterentwickelt war, ist jetzt zu Reife und voller Blüte erwachsen. Man kann sagen, dass in Sri Chinmoys Gedichten die englische Sprache ihr wahres spirituelles Potenzial erlangt.

Sri Chinmoys große Zahl von Gedichten ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Einfachheit und Kraft. Walt Whitman pries einmal die Einfachheit als die höchste Kunst:

„The art of art, the glory of expression and the sunshine of the light of letters is simplicity. Nothing is better than simplicity.“[1]

Die Kunst der Künste, der Glanz des Ausdrucks und das Sonnenlicht im Licht der Worte ist die Einfachheit. Nichts ist besser als Einfachheit.

Im Falle Sri Chinmoys begegnet uns diese Einfachheit in zweierlei Gestalt. Sie ist zum einen das, was in jener entlegenen spirituellen Erfahrung liegt, wo der Sucher die Auflösung aller Gegensätze wahrnimmt und all die verschiedenen Annäherungen an Gott in eins zusammenfließen. Zum anderen wirft sein erweitertes Verständnis des Universums ein neues glänzendes Licht auf die meisten ganz gewöhnlichen Bilder und Metaphern. Auch die Stimme der Seele gelangt zu beredter und kraftvoller Einfachheit, indem sie die Verworrenheit des Intellektuellen und Philosphischen transzendiert. Es ist diese Kombination von hoher intuitiver spiritueller Schau und kraftvollem künstlerischen Ausdruck, der Sri Chinmoys Lyrik zu einem „Triumph der Kontemplation“ [2] gemacht hat.

Fußnoten
[1] Vorwort zu „Leaves of Grass“ (1855) in „The Portable Walt Whitman“, ed. Mark Van Doren (Penguin, 1977), S.13-14
[2] Diese Definition stammt von Benedetto Croce. Zitiert in: Allen Tate, ed. The Language of Poetry (New York: Russell & Russell, 1960), S.105