Lyrik als Mantra

(Ein Artikel von Alan Spence. Alan Spence war "Writer-in-Residence" an der Universität von Glasgow, Schottland. Er hat als Autor Gedichte, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Fernsehspiele verfaßt und arbeitet derzeit an einem Roman.)

Wenn es sich ein Dichter zur Aufgabe macht, die höchste spirituelle Wahrheit auszudrücken – “das Unbeschreibliche auszudrücken”, wie es Aldous Huxley genannt hat - sieht er sich notwendigerweise mit dem Paradox konfrontiert, das in einem solchen Vorhaben liegt. Mit anderen Worten: er weiß, dass das, was er auszudrücken will, jenseits der Sprache liegt. Und doch muß der Versuch unternommen werden, denn letztlich gibt es nichts anderes, das es sich lohnte, auszudrücken. Wissend, dass das, was er ausdrücken will, wohl besser durch Musik vermittelt werden könnte, oder noch direkter in der tiefen Stille der Meditation, muß er eine Form finden, die der Intensität seiner Vision gerecht werden kann.

Sri Chinmoy, der indische Poet und Mystiker, hat solch eine Form entwickelt, und er hat dies sogar im Englischen vollbracht, einer Sprache, die weniger fließend, weniger musikalisch als seine Muttersprache Bengali ist.

Als englisch schreibender Inder ist er der Erbe zweier Traditionen. Es gibt Ähnlichkeiten mit Herbert und Blake, mit Hopkins und Whitman. Doch in mancher Hinsicht ist er weit über diese Dichter hinausgegangen und es ist notwendig, seinen indischen Hintergrund miteinzubeziehen, um ein vollständigeres Verständnis seiner dichterischen Leistung zu entwickeln.

Es gibt zwei Sanskrit-Ausdrücke, die zum Verständnis seiner Lyrik besonders wichtig sind – Mantra und Sutra.

Viele Menschen im Westen sind vertraut mit Mantras im Zusammenhang mit der Praxis der Meditation. Ein Mantra in seiner einfachsten Form ist eine Silbe oder eine Reihe von Silben, die hörbar gesungen der meditativen Versenkung dienen. Dem wohnt ein Bewusstsein inne für die Kraft des Wortes als Beschwörung oder Anrufung. Mantrische Lyrik ruft in der Tat genau die Qualitäten an, die sie in Worten beschreibt.

Nolini Kanta Gupta, ein zeitgenössischer indischer Dichter und Philosoph, schrieb einmal: "Die höchste und vollkommenste Form von Lyrik liegt im Mantra. In mantrischer Lyrik ist die Sprache nicht das Gewand oder die äußere Hülle einer Erfahrung, sondern die lebhafte Wahrnehmung einer inneren Seligkeit".

Als Beispiel nennt er die Schriften der großen Rishis, der sehenden Dichter Indiens, der Verfasser der Veden, Upanischaden, und der Gita. (Es ist interessant, daß Eliot sein Werk “The Waste Land” mit einer den Upanischaden entnommenen mantrischen Anrufung von Frieden beschließt – Shantih Shantih Shantih – klar erkennend, welche Kraft und welcher Widerhall in diesen uralten Worten liegt.)

Das Wort Sutra ist dem westlichen Leser wohl weniger bekannt. Im wörtlichen Sinne bedeutet es Faden, und es wird benutzt, um knapp formulierte Sinnsprüch zu beschreiben, von denen vielleicht die bekanntesten die Yoga-Sutras des Patanjali sind. Diese bieten eine Anleitung auf dem Yoga-Pfad und sind dicht gepackt, so entworfen, dass sie eingeprägt und laut rezitiert werden können, um dabei nach und nach ihre Wahrheit zu enthüllen.

Viele von Sri Chinmoys kurzen Gedichten sind ebenso instruktiv, und in ihrer scheinbaren Einfachheit lassen sie beim wiederholten Lesen jedesmal mehr von ihrer Tiefe entdecken. Sie zeigen eine Haiku-ähnliche Kompaktheit, eine unwahrscheinliche Dichte der Sprache.

Er hat, um es auf den Punkt zu bringen, seine eigene Sprache geformt, sein eigenes Vokabular, und hat vertraute Wörter mit neuem Leben, neuer Energie und Vitalität durchtränkt. Sein Stil ist einzigartig und sofort erkennbar.

Es ist ein zugleich lyrisch-bildhafter und abstrakter Stil. Es gibt nur wenig Gegenständliches in seinen Gedichten und dies Wenige ist mit Bedeutung geradezu übervoll aufgeladen. Man findet hier Archetypen, Bilder, die als Symbol fungieren: Vogel, Boot, Baum, Blume, Flamme.

Er ist vor allem ein Dichter innerer Landschaften, der niemals vergisst, dass ein Gedicht nichts als ein "Fingerzeig zum Mond" ist, eine Einladung zur Stille jenseits der Sprache.

Es ist eine Lyrik, die trotz ihrer Einfachheit schwierig und herausfordernd sein kann. Dies jedoch nicht im gewöhnlichen Sinne, wo die Herausforderung dem Intellekt gilt, der darum ringt, etwas Verworrenes zu enträtseln. Es ist eher ein qualitativer Sprung des Bewusstseins, der hier verlangt wird: der Leser muß sich hier auf die Ebene der Gedichte erheben, er muss aktiv daran teilnehmen, das Verstehen muss eine Erfahrungsdimension haben. “Ein Gedicht sollte nicht bedeuten, sondern sein”, schrieb Archibald McLeish. Und ein Gedicht existiert, lebt nicht flach auf dem Papier, sondern in seiner ganzheitlichen Wirkung.

Vor einigen Jahren las der schottische Lyriker Tom McGrath eines von Sri Chinmoys Gedichten einem anderen Autor vor, um darin die Unmöglichkeit aufzuzeigen, im Englischen das auszudrücken, was er als die typisch indische Empfindsamkeit betrachtete. Tom glaubte, dieses spezielle Gedicht sei irgendwie altmodisch in Rhytmus und Wortwahl. Aber irgendwie merkte er, dass das nicht zutraf. Was beim Vorlesen des Gedichts passierte, beschreibt er im folgenden: “Die Worte sprangen von meinen Lippen und hallten im Raum mit einer Authorität wieder, die erfuhrchtgebietend war. Es wurde uns klar, daß wir einer Stimme lauschten, die direkt vom höchsten Gipfel menschlicher Erfahrung sprach. Als wir die letzte Zeile erreichten, waren wir beide verblüfft. Wir hatten nicht nur ein großartiges Gedicht gehört, sondern auch beide das Gefühl, in der Gegenwart eines Bewusstseins gewesen zu sein, dessen Natur uns mit der größten Demut und Erfuhrcht erfüllte. Seitdem empfinde ich neuen Respekt für Sri Chinmoys Lyrik...”

Das Gedicht, von dem hier die Rede ist, war "The Absolute". Es ist eines jener Werke, in denen sich Sri Chinmoy in äußerst anschaulicher Weise der mantrischen Sprache bedient, wie ich sie oben beschrieben habe.

Der Ton der Autorität lässt hier keine Fragen offen. Um es ganz einfach zu sagen: er weiß, wovon er spricht. Er muß sich nicht verteidigend erklären, er macht einfach seine Feststellung. Auf einen Leser, der eine solche Sicherheit der Aussage nicht gewohnt ist, kann dies bestürzend wirken. Es erinnert mich an Christopher Isherwoods Beschreibung der Sprache, die Krishna in der Bhagavad Gita spricht: “Als ob Gott eine Universitätsvorlesung hält!”

Aus meinen Ausführungen geht wohl hervor, dass diese Gedichte hörbar rezitiert werden sollten (und es ist eine zugleich bewegende und erhebende Erfahrung, die Rezitation durch Sri Chinmoy zu hören). Viele seiner Gedichte hat er in der Tat in Musik gesetzt und ihnen dadurch eine neue Schönheit, eine weitere Dimension hinzugefügt. Allzu gern zitiert Sri Chinmoy seinen berühmten Landsmann Tagore:

“Den Vögeln schenktest Du Lieder
Und die Vögel gaben Dir Lieder zurück.
Mir gabst Du nur eine Stimme,
Doch fragst Du nach mehr,
Und ich singe.”

Dieses "Mehr" ist es, das Sri Chinmoy in seine Gedichte, Lieder und Mantras fließen läßt, und es richtet sich direkt an dasjenige in uns, welches William Butler Yeats “des tiefsten Herzens Winkel” nannte. Die Einfachheit dieser Gedichte, Lieder und Mantras sind oft irreführend, so wie Wasser in seiner Klarheit seine Tiefe verschleiert. Es handelt sich um eine hart erworbene Einfachheit, die höchste Auflösung aller Komplexität.

Ich bin der Ansicht, dass Sri Chinmoy in der zeitgenössischen Literatur einzigartig ist. Man findet nichts, was mit seiner schöpferischen Leistung wirklich verglichen werden könnte, weil es niemanden gibt, der aus der gleichen Perspektive oder der gleichen Ebene inneren Erkennens schreibt.

Ich habe hier versucht, Sri Chinmoys Lyrik “einzuordnen”, jedoch nicht mit der Absicht, sie einzugrenzen oder einer festen Kategorie zuzuschreiben. In Wirklichkeit ist es meine Überzeugung, daß er seinen eigenen Raum, seine eigene Kategorie geschaffen hat, jenseits der Gezeitenströme literarischer Moden.