Der "Zeitfaktor" im lyrischen Werk

...aus..."Simplicity and Power: The Poetry of Sri Chinmoy 1971-1981"


Eine der hauptsächlichen Unterscheidungsmerkmale der Lyrik ist die Repräsentation der Zeit. Die Ganzheit lyrischer Befindlichkeit ist eng mit einem einzigen Moment der Zeit, die sie einschliesst, verbunden. Der Moment geht vorüber, die Emotion selbst ändert sich, wird vermischt mit anderen Gefühlen und verliert sich. Die Freiheit lyrischen, externen Zeitfaktors ist in Sharon Cameron's Diskussion über Emily Dickinson's Gedichte betont:

"Keine phantasiereiche Fiktion ist so resistent gegen die Unterbrechung ihrer inwändigen Rede, wie die der Lyrik. Im Gegensatz zum Drama oder der Novelle, muss sich die Lyrik nicht mit schriftstellerischer, erklärender Beschreibung oder anderen manipulativen Verdrängungen abmühen, noch muss sie die periodischen Unterbrechungen, garantiert durch Akt, Szene oder Kapiteltrennungen bewältigen. Wie auch immer, höchst wichtig ist, sie muss nur mit einer einzigen Stimme (nämlich ihrer eigenen) am Geschehen teilnehmen. Dieser Fakt macht das Selbst in der Lyrik einheitlich und gibt ihr die Illusion, sie allein habe die Fähigkeit, das Universum aus allen praktischen Gründen, niemand sonst, nichts sonst, zu bewohnen."[9]

Diese Bändigung sozialer und temporaler Welten in lyrischen Sphären nimmt ihren Einfluss dennoch nicht ganz zurück. Tatsächlich betont Cameron richtigerweise, "um den Sieg der Momente aufzuhalten, bedeutet...dass sie unausweichlich vorübergehen müssen, selbst die verzweifelten im Verstand." Die Beziehung mit der sozialen Welt zu vermeiden, kann dazu führen, den Druck ihrer Fesseln zu vergrössern. Dieser Bereich des Konfliktes, den lyrischen Moment eingrenzend, mag zeitweise zur Quelle der Verzweiflung werden, wie in dem folgenden Gedicht:


Das Boot Der Zeit Segelt Dahin

Der Himmel ruft mich,
der Wind ruft mich,
der Mond und die Sterne rufen mich.

Die grünen und dunstigen Grotten rufen mich,
der Tanz der Springquelle ruft mich,
Lächeln rufen mich, Tränen rufen mich,
Eine entfernte Melodie ruft mich.

Mein Morgen, Mittag und Abend rufen mich.
Jeder sucht nach einem Spielgefährten,
Jeder ruft mich, "Komm, komm!"
Eine Stimme, ein Klang überall.
Aber ach, das Boot der Zeit segelt dahin.


Das Element fiktionaler Projektion, das offensichtlich in vielen Gedichten anwesend ist, erniedrigt nicht Sri Chinmoy's Interpretation von Kunst als Verschmelzung des Künstlers mit seiner wahren Selbstform, sozusagen als ästhetische und spirituelle Bedingung, denn indem er einen bestimmten Zustand porträtiert, selbst einen, der nicht exakt mit seinem eigenen Leben autobiographisch korrespondiert, ist er dennoch bestrebt, sich mit der Wahrheit zu identifizieren. In diesem Sinne möge das Ziel der Selbstentdeckung in der Kunst verstanden werden. Arnold Stein kommentiert:

"Alle Schriftsteller lernen von ihren eigenen Werken und es scheint nicht länger schwierig zu sein, zu glauben, dass ein lyrischer Poet die tiefsten Dinge über sich selbst während der Intensität seiner Kompositionen erfährt. Wenn er der richtige Poet ist, entdecken wir in dem Selbst, das er entdeckt, beides, die Vielfalt und das Einssein menschlicher Kondition." [18]

Dass das Ideal der Selbstentdeckung das Höchste für den Poeten darstellt, finden wir in Rabindranath Tagore's Lyrik:


Ich habe dich ewig gesucht in meinen Liedern. Sie waren es, die mich von Tür zu Tür führten, und mit ihnen suchend und meine Welt berührend, habe ich mich selbst erfahren.

Es waren deine Lieder, die mich all die Lektionen lehrten, die ich je lernte; sie zeigten mir die geheimen Wege, sie brachten viele Sterne am Horizont meines Herzens in Sicht.

Sie führten mich den ganzen Tag lang zu den Mysterien des Landes der Vergnügungen und Schmerzen, und letztlich, zu was für einem Palast-Tor haben sie mich am Abend meines Lebens gebracht?


Wenn diese Verschmelzung nicht vollzogen worden wäre, wäre die Dichtkunst jenseits seines Verstehens geblieben.


Das Lied, dass ich kam zu singen, bleibt ungesungen bis zum heutigen Tag.
Ich verbrachte meine Tage mit dem Stimmen und Entstimmen meines Instrumentes.
Die Zeit ist nicht wahr geworden, die Worte wurden nicht richtig gewählt;
In meinem Herzen ist nur die Agonie des Wünschens.
Die Blüte hat sich nicht geöffnet; nur der Wind seufzt vorüber.
Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, noch habe ich seine Stimme gehört;
Der lebenslange Tag ist vorüber gegangen, in dem er seinen Platz am Boden verstreute;
Aber die Lampe wurde nicht angezündet und ich kann ihn nicht in mein Haus bitten.
Ich lebe in der Hoffnung, ihm zu begegnen, aber es ist noch nicht soweit.


Tagore's Literatur ist porträtiert als ein Feld, auf dem sich der Poet mit dem "anderen" trifft, sei es Gott oder das Selbst. Was der Poet als Lied empfängt, ist eine innere Fülle, die sich ergiesst aus der Ganzheit seiner Intuition. Eine weitere Veröffentlichung zum selben Thema finden wir bei Jorge Luis Borges im stillen und meditativen Rhythmus von "Metthew XXV:30:"


Vom unsichtbaren Horizont
Und vom Inneren meines Wesens
Sprach eine innere Stimme
Diese Dinge, nicht Worte, aus.
Dies ist meine schwache Übersetzung,
Zeitgebunden, was nur
ein einziges, zeitloses Wort war:
Sterne, Brot, Bibliotheken von Ost und West,
Karten spielen, Schachbretter, Gallerien,
Oberlichter, Keller,
Ein menschlicher Körper, um auf dieser Erde
zu gehen,
Fingernägel, die wachsen zur Nachtzeit und im Tod,
Schatten zum Vergessen, Spiegel, sich fleissig
multiplizierend,
Kaskaden der Musik, zärtlichst von allen zeitlichen Formen,
Die Grenzen Brasiliens, Uruguay, Pferde und Morgen,
Ein bronzenes Gewicht, eine Kopie der Grettier Sage,
Algebra und Feuer, der Angriff auf Junin in deinem Blut,
Tage, überfüllter als Balzac, Duft der Heckenkirsche,
Liebe und ihre Bedrohung, untolerierbare Erinnerungen,
Träume aus vergrabenen Schätzen, grosszügiges Glück,
Und Erinnerung selbst, die mit einem Blick den Menschen
schwindelig macht?
All dies wurde dir gegeben und mit ihr die uralte Nährkraft
Der Helden?
Verrat, Unterwerfung, Demütigung,
Umsonst wurden Ozeane an dir verschwendet,
Umsonst die Sonne durch Whitman's Augen gesehen.
Du hast die Jahre benutzt und sie haben dich benutzt,
und immer noch hast du das Gedicht nicht geschrieben. [21]




Anmerkungen:





[9] Lyric Time: Dickinson and the Limits of Genre (Baltimore: Johns Hopkins
University Press, 1979), p. 119.
[18] Introduction to Theodore Roethke: Essays on the Poetry (Seattle: University
of Washington Press, 1965), p.xiii
[21]Jorge Luis Borges, Selected Poems 1923-1967, Norman Thomas di Giovanni
intro. (Lon: Allen Lane, The Penguin Press, 1972), p. 105. Translated by Alastair
Reid.