Parallelismen als Grundlage improvisierter Dichtung

Ich werde im folgenden verschiedene Arten von Parallelismen und ihre Anwendung innerhalb beispielhafter Gedichte aus Sri Chinmoys Band "Europe-Blossoms" untersuchen. Dieser Band mit eintausend Gedichten ist während einer Europareise des Dichters im Jahre 1974 entstanden. Der Entstehungszeitraum war in diesem Fall drei Wochen, was auf ein Schreibtempo schließen lässt, das gewohnte Maße übersteigt! Der Schlüssel zu Sri Chinmoys dichterischem Schöpfungsvorgang liegt in der Bezeichnung "mündlicher Dichter", denn seine Kunstform ist tatsächlich eine improvisatorische: die Gedichte entstehen aus einem Guss, sie bringen im Moment der Entstehung den ganzen Menschen zum Ausdruck. Sri Chinmoy bezeichnet sich selbst als Teil der mündlichen Tradition der Lyrik, im Unterschied zu der von den meisten Dichtern angewandten Praxis, von einer ersten Version eines Gedichts zu einer ausgearbeiteten Endfassung voranzuschreiten. In der mündlichen Tradition fallen der Moment der Entstehung und der Darbietung des Gedichts zusammen. In einem einzigen Vorgang wird der Künstler Schöpfender und Darbietender.

Improvisiertes Dichten verlangt dem Dichter das Äußerste ab. Er muss nicht nur über ein reiches Reservoir an Themen verfügen, sondern auch über ein außergewöhnliches Gedächtnis, eine nahezu vollkommene sprachliche Ausdrucksfähigkeit und eine intensiv flammende Vorstellungskraft. Diese Bedingungen zu erfüllen macht aus der Arbeit des mündlich Dichtenden eine wahrhaft epische Arbeit, denn er strebt danach, in seinem kreativen Überfluss die vorherrschenden Erfahrungen seiner Zeit zu erfassen. Gelingt es ihm, so erlangt er die visionäre Schau von

"the man without impediment, who sees and handles that which others dream of, traverses the whole scale of experience, and is representative of man, in virtue of being the largest power to receive and impart." [18]

einem Menschen ohne Hindernisse, der das sieht und berührt, wovon andere nur träumen, der die ganze Bandbreite möglicher Erfahrungen durchschreitet und für den Menschen an sich steht, weil er die größtmögliche Fähigkeit besitzt, zu empfangen und zu übermitteln.

Die Betonung wird von Emerson hier auf die Fähigkeit des Dichters gelegt, gleichzeitig Empfänger und Bote zu sein ("power to receive and impart"). Er räumt damit dem Bedürfnis sich auszudrücken den Vorrang ein vor der Suche nach Originalität. Wir finden deshalb im mündlich Dichtenden jemanden, dessen lyrische Grammatik vor allem durch Nützlichkeit gekennzeichnet ist – nützliche Worte, nützliche Sätze, nützliche Redewendungen. Albert Lord bestätigt dieses Kriterium der Nützlichkeit und schreibt,

"(it) carries no implication of opprobrium. Quite the contrary. Without this usefulness the style, and, more important, the whole practice would collapse or would never have been born." [19]

darin ist keine Schande, ganz im Gegenteil. Ohne diese Nützlichkeit würde der Stil, und mehr noch, diese ganze Praxis in sich zusammenfallen oder wäre gar nie entstanden.

Jeder Dichter der mündlichen Tradition neigt dazu, seinen Themen gemäße, eigene Wortlandschaften zu entwickeln. C.M.Bowra schreibt in diesem Zusammenhang über Homer:

There is hardly a situation for which Homer has not a formulaic line or passage. He has them for all the machinery of narrative, for speech and answer, morning and evening, sleeping and waking, weapons, ships putting to sea and coming to lands, feasts and sacrifices, greeting and farewell, marriage and death.[20]

Es gibt kaum eine Situation des Lebens, zu der Homer keine formelhaften Wendungen parat hat. Er hat sie für das ganze Arsenal des Erzählenden, für Rede und Antwort, Morgen und Abend, Schlafen und Wachen, Waffen, Schiffe, die in See stechen und wieder heimkehren, Feste und Opfergaben, Begrüßung und Lebwohl, Heirat und Tod.

Bowra folgert daraus, dass formelhafte Wendungen die Grundlage improvisierter Dichtung sind.

Ganz im Sinne der mündlichen oder improvisierten Dichtkunst, weist Sri Chinmoys Werk eine ganze Reihe klar definierter formelhafter Wendungen auf. Zuallererst zu nennen sind hier Aufzählungen oder Progressionen. Sie können in die Kategorien Zeit, Handlung, Ort, Eigenschaft oder Person fallen. Der Dichter reiht sie oft in aufsteigender Wichtigkeit aneinander, oder gegenläufig, in absteigender Wichtigkeit. In dem dreistrophigen folgenden Gedicht findet gar eine Verwandlung auf vier verschiedenen Ebenen statt: Subjekt, Handlung, Ort und Eigenschaft.

GLORIOUS IS THE PATH

Adventurous
Is the path of prayer.
My body and I knew it.

Glorious
Is the path of meditation.
My heart and I know it.

Generous
Is the path of surrender.
My life and I shall know it.[21]

Die streng parallele Struktur dieses Gedichts bringt ihre einzelnen Glieder geschmeidig hervor. Die Abfolge Gebet-Meditation-Überantwortung (prayer-meditation-surrender) findet ihre Entsprechung in der Abfolge Körper-Herz-Leben (body-heart-life) und Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (past-present-future). Der Dichter lässt diese Glieder nicht nur organisch fortschreiten, er zielt auch darauf ab, die besonderen Qualitäten jeder einzelnen „Phase“ herauszuarbeiten. So entsteht die in ihrer Dynamik wichtigste Sequenz des Gedichts: abenteuerlich-glorreich-großzügig (adventurous-glorious-generous). Durch ihre isolierte Stellung erhalten diese Adjektive enormes Gewicht, und sind zugleich durch ihre klangliche Ähnlichkeit und ihre immer gleiche Position innerhalb der Architektur in den Fluss des Gedichts eingewoben.

Diese sorgfältig gewählten Schlüsselwörter geben dem assoziativen Raum von Gebet, Meditation und spiritueller Überantwortung eine neue Farbe. Weil weitere umschreibende Eigenschaftswörter im Gedicht fehlen, sind wir gezwungen, die Bedeutung dieser Worte viel genauer zu ergründen, als wir es im normalen Sprachgebrauch tun würden. So evoziert zum Beispiel das Wort "abenteuerlich" ("adventurous") Bilder von Mut, von Suche, von Exkursion ins Unbekannte, und stellt damit den Weg des Gebets ("the path of prayer") in den Zusammenhang einer Reise. Es folgt daraus, dass das Wissen über das Gebet etwas mit dem Körper zu tun hat. Der ruhmreiche Glanz, den wir normalerweise mit dem Erreichen eines hohen Ziels oder dem Ziel einer langen Reise assoziieren, wird vom Dichter als nächstes mit der Meditation in Beziehung gesetzt. Dies ist das sich im Jetzt entfaltende Wissen des Herzens. Schließlich umfasst die selbstgebende Eigenschaft der Großzügigkeit genau das, was mit spiritueller Überantwortung gemeint ist, dem Traum der Zukunft.

Es ist der Leser, der diese Prinzipien der Abfolge und die Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern des Gedichts "entdecken" muss. Während die offenkundige Parallelstruktur dem Gedicht auf den ersten Blick ein zugängliches Gesicht verleiht, lösen die vielfältigen Assoziationen der in Beziehung gesetzten Wortgruppen beim Leser eine aktive und tiefergehende Antwort aus. George Steiner schreibt in diesem Zusammenhang:

"The most thorough possible understanding of a poem occurs when we re-enact, in the bounds of our own secondary but momentarily heightened, educated consciousness, the creation by the artist." [22]

Die größtmögliche Verständnistiefe tritt beim Lesen eines Gedichts dann ein, wenn wir das Werk des Dichters in den Grenzen unseres eigenen, zwar nachgeordneten aber für den Moment erhobenen, verfeinerten Bewusstseins neu in Szene setzen.

[18]Emerson, „The Poet“ Essays, p.206.
[19]The Singer of Tales (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1971), p.65.
[20]Bowra, p.234 and following quotation p. 222.
[21]Europe-Blossoms, p.124. For the remainder of this study of parallelism, page references to poems in Europe-Blossoms will appear in brackets after the text.
[22]George Steiner, After Babel: Aspects of Language and Translation (London: Oxford University Press, 1975), p. 26