Die Verknüpfung sprachlicher Stilmittel und spiritueller Erkenntnisse bei Sri Chinmoy

...aus..."Simplicity and Power: The Poetry of Sri Chinmoy 1971-1981"

Um zu verstehen, wie diese Art von Architektur den Leser einzubeziehen vermag, ist es nötig, das Zusammenwirken struktureller und inhaltlicher Parallelismen näher zu betrachten. Die folgenden beiden Gedichte, die beide auf einer zeitlichen Progression basieren, veranschaulichen dieses Wechselspiel der Symmetrie:

YOUR HEART

In the morning
Your heart is spotless white;
Therefore
God embraces you.

In the afternoon
Your heart is limitless blue;
Therefore
God reveals Himself through you.

In the evening
Your heart is deathless red;
Therefore
God fulfils the world through you. (p. 148)

DAWN LOVES YOU

Dawn loves you;
Therefore
You are purity's flood.

Noon loves you;
Therefore
You are surety's sky.

Evening loves you;
Therefore
You are tranquility's soul. (p. 192)

Die strukturbildenden Elemente des Parallelismus werden in beiden Gedichten mit strenger Regelmäßigkeit aufrechterhalten. Eine die Strophe eröffnende Zeile findet in der folgenden Strophe ihre Entsprechung. Entsprechungen in Zeilenlängen und Syntax, sowie vollkommen schlüssig zusammenpassende Gedanken – all dies fügt sich zu einem Stil, der durch seine formale Präzision die Geradlinigkeit seiner gedanklichen Inhalte widerspiegelt. Weisheit und Beredsamkeit sind mit einander verwoben, ebenso wie die lichtvollen Gedanken mit einer Sorgfalt in der Proportionierung der Teile verwoben sind. Genauso, wie eine Redewendung in ihrer kompakten Form mit der Allgemeingültigkeit ihres Inhalts verschmilzt, und dadurch unsere sofortige Zustimmung herausfordert, identifiziert der Leser dieser Gedichte die Gedanken der Weisheit mit der Reinheit und Klarheit des literarischen Stils. Die Lektüre entlässt uns mit dem Blick dafür, dass die Rhetorik hier eine höhere, edlere Rolle spielt als die der bloßen Überzeugung. Vielleicht sehen wir sie nun mehr aus der klassischen Perspektive, als eine der hervorragendsten menschlichen Fertigkeiten, nämlich

"the means through which man expresses his wisdom, and without which wisdom is inarticulate and inert." [23]

dem Mittel, durch das der Mensch seiner Weisheit Ausdruck verschafft und ohne das die Weisheit stumm und reglos bleibt [23]

Sri Chinmoy pflichtet dieser Sichtweise bei, wenn er über die Dichtkunst schreibt:

"The Sanskrit word for the poet is kavi; a kavi is he who envisions. What does he envision? He envisions the truth, the truth in its seed-form, its potentiality. He envisions the seed-truth in its possibilities and in its inevitabilities." [24]

Der Sanskritbegriff für "Dichter" ist "kavi". Ein "kavi" ist jemand , der die Schau besitzt. Was schaut er? Er schaut die Wahrheit, die Wahrheit in ihrer Urform und in ihren Möglichkeiten. Er schaut die Ur-Wahrheit in ihren Möglichkeiten und unausweichlichen Konsequenzen.

Und Walter Pater unterstreicht in seinem Aufsatz über den Stil diese Synthese zwischen Dichtkunst und Wahrheit:

"All beauty is in the long run only fineness of truth, or what we call expression, the finer accommodation of speech to that vision within ." [25]

Alle Schönheit ist schlussendlich nichts anderes als edle Wahrheit, und das, was wir als Ausdruck bezeichnen, die gefällige Anpassung der Sprache an die innere Schau.

Die Sprache selbst neigt dazu, den Gegenstand ihrer Beschreibung, die Wirklichkeit, in verkleinerter Form dem Bewusstsein des Hörers mitzuteilen, und es mag daran liegen, dass es so schwierig ist, eine Aussage wie die Walter Paters in die Praxis umzusetzen.

Diese Theorie wurde von George Steiner in seinem Werk "After Babel" formuliert:

"In certain civilisations there come epochs in which syntax stiffens, in which the available resources of live perception and restatement wither. Words seem to go dead under the weight of sanctified usage; the frequence and sclerotic force of cliches, of unexamined similes, of worn tropes increases. Instead of acting as a living membrane, grammar and vocabulary become a barrier to new feeling. A civilisation is imprisoned in a linguistic contour which no longer matches, or matches only at certain ritual, arbitrary points, the changing landscape of fact." [26]

In gewissen Zivilisationen gibt es Epochen, in denen sich die Syntax verfestigt und die gegebenen Möglichkeiten lebendigen Hörens und Erwiderns verkümmern. Worte scheinen unter dem Gewicht ihres allgemein sanktionierten Gebrauchs ihr Leben zu verlieren. Man beobachtet eine erhöhte Häufigkeit und erstarrte Kraft von Klischees, von ungeprüften Vergleichen und abgenutzten Tropen. Grammatik und Vokabular werden zu einer Barriere gegen neue Empfindungen, statt als lebendige Haut dafür zu dienen. Eine Zivilisation ist dann in einem linguistischen Umriss gefangen, der der sich wandelnden Landschaft der Tatsachen nicht mehr entspricht oder dies nur noch an bestimmten ritualiserten willkürlichen Punkten tut.

Was ich bis hierher dargelegt habe, ist meine Erkenntnis, dass Sri Chinmoys einfache Sprache und stringente Form aus einem tiefen Glauben in die Integrität und gewissermaßen die Heiligkeit des einzelnen Wortes heraus entstehen. Beispielhaft verwendet der Dichter in dem Gedicht "Your Heart" die Farbqualitäten "spotless white", "limitless blue" und "deathless red", um die Wandlungsphasen des Herzens für uns zu erfassen, und es zeigt sich hier, wie die Worte des Dichters gerade in ihrer Schnörkellosigkeit all die Bedeutungsschattierungen ausleuchten. Auf der einen Ebene stellen die Worte Sri Chinmoys in einem einzigen brillianten Pinselstrich den Morgen, den Nachmittag und den Abend nebeneinander vor unser geistiges Auge. Wandert unser visueller Fokus dann auf die Farbe, so wird uns jedoch klar, dass es hier um Abschattierungen sowohl der Tageszeit als auch von Herzensqualitäten geht. Diese Wendung in unserer Vorstellungskraft wird ermöglicht durch die Mehrdeutigkeit der Adjektive „spotless“, „limitless“ und „deathless“. Dies sind nämlich Adjektive, die mittels ihrer Negation die absoluten Qualitäten der Unendlichkeit, der Ewigkeit und der Unsterblichkeit mit einschließen. Der Dichter scheint sagen zu wollen, dass sich der Mensch in dem Maße, in dem er diese Qualitäten sein eigen zu nennen weiß, dem Göttlichen annähert. Gott umarmt ("embraces") ihn dann im völligen Einssein. Die augenfällige Einfachheit der Diktion steht in diesen beiden Gedichten nicht etwa für eine Verschlüsselung der Bedeutung, sondern für das Bemühen des Dichters, die subtile, vielschichtige spirituelle Erfahrung für jedermann verständlich auszudrücken. Wenn der Niedergang der Rhetorik einem wachsenden Glauben an den privaten, bekenntnishaften Charakter von Lyrik zugeschrieben werden kann, so mag man umgekehrt das Vorherrschen der Rhetorik im Werk Sri Chinmoys als Zeichen dafür sehen, dass die Lyrik hier eine mehr öffentliche Rolle zurückgewinnt. Der Redner des klassischen Altertums verband den Philosophen mit dem Staatsmann und dem Dichter. Dies ist ein Zug, der im Werk Sri Chinmoys weiterlebt, der zugleich Visionär und Dichter ist, ein Aspekt, den ich weiter unten in Kapitel 3 weiter beleuchten will.

Die Rhetorik spielt eine fundamentale Rolle als Hilfsmittel des Dichters, wenn er unergründliche spirituelle Beziehungsgeflechte verständlich machen will, sie liefert ihm dafür vorgefertigte Methoden. Und wie der mündlich dichtende Künstler des klassischen Altertums verwendet er diese formelhaften Methoden ohne Furcht vor Klischees oder Stereotypen, denn gerade in ihnen hat er geeignete Ausdrucksmittel gefunden. Über die Verwendung klassischer rhetorischer Formeln schreibt C.M.Bowra:

These formulae are in the main traditional; for, once a good formula has been found, poets use it freely without considerations of copyright. If formulae prove useful, they may last for centuries, and there is no need to abandon them just because they are familiar. Indeed their familiarity gives them a special dignity and commands respect. [27]

Diese Formeln sind in erster Linie durch Traditionen begründet. Wenn nämlich einmal eine gute Formel gefunden war, so verwendeten die Dichter sie freizügig, ohne sich deshalb als Plagiator zu fühlen. Geeignete Formeln können Jahrhunderte überdauern und es gibt keinen Grund, sie nur deshalb aufzugeben, weil sie altbekannt sind. Ihr Bekanntheitsgrad verleiht ihnen sogar eine spezielle Würde und fordert besonderen Respekt heraus.

Lassen Sie uns diese Behauptung zur Wirkung des Vertrauten an einem dritten Gedicht aus dem Band „Europe-Blossoms“ überprüfen. Es basiert auf einer Morgen-Mittag-Abend-Zeitreihe:

MAN THE SAVIOUR SUPREME

Be pure like the golden dawn.
You can and shall easily be
Man the seeker supreme.

Be sure like the dauntless noon.
You can and shall unmistakably be
Man the lover supreme.

Be true like the dutiful earth
And
The dutiful sun.
You can and shall eventually be
Man the saviour supreme. (P. 10)

Die ersten Zeilen der beiden ersten Strophen verdeutlichen erneut Bezüge, die ich in den bereits analysierten Gedichten aufgezeigt habe. Der Dichter geht dann weiter und erweitert jede Strophe mit Hilfe einer rhetorischen Figur, durch die vom Dichter eine „Belohnung“ ausgelobt wird, sofern man die Bedingung der jeweils ersten Zeile erfüllt: befolgt der Leser oder spirituelle Sucher die Anweisung „Be pure like the golden dawn“, so wird er zum „Man the seeker supreme“. Dieser Wandlungsprozess basiert auf der Logik einer kausalen Handlung.

Die zweite Strophe wiederholt die Struktur der ersten und ersetzt die variablen Teile (hier kursiv gedruckt):
Be sure like the dauntless noon
You can and shall unmistakably be
Man the lover supreme.

Der Dichter ist nun in der Situation - der beim Leser erzeugten Erwartung entsprechend - vier verschiedene Progressionen zugleich weiterzuspinnen. Er muss nicht nur die Morgen-Mittag-Sequenz abschließen, sondern auch den damit assoziierten Aufstieg des spirituellen Suchers auflösen, der sich genau wie die Sonne erhebt, um zum „lover supreme“ zu werden. Sri Chinmoy löst das durch einen interessanten Kunstgriff, indem er nämlich in der dritten Strophe den Parallelismus der Satzstruktur beibehält und gleichzeitig neuartige Elemente einführt:

Be true like the dutiful earth
And
The dutiful sun.
You can and shall eventually be
Man the saviour supreme.

Der Dichter lenkt seine Morgen-Mittag-Progression in die Richtung einer die ganze Erde und Sonne umfassenden Perspektive und beleuchtet dabei ihre jeweiligen Rollen im kosmischen Spiel. Erde und Sonne sind ihrer scheinbar vorherbestimmten Pflicht treu. Die logische Fortführung dieses Bildes bildet der Mensch, der zum „Man the saviour supreme“ wird, sofern er selbst seine zeitlose pflichtgebundene Rolle anerkennt.

In diesem Gedicht enthüllt uns Sri Chinmoy, dass sein künstlerisches Ausdrucksbedürfnis durch keine mechanische Formelhaftigkeit gebunden ist. Die Tragweite der spirituellen Vervollkommnung, die er hier in diesem Fall darstellen wollte, konnte von dem Morgen-Mittag-Abend-Muster anderer Gedichte nicht in angemessener Weise umschrieben werden. Es erschien ihm notwendig, das Gedicht in den größeren Zusammenhang der „dutiful earth“ und der „dutiful sun“ hin zu öffnen. Als direktes Ergebnis dieser Öffnung des Bezugsrahmens ist es dem Dichter möglich, solch ein Wort wie „saviour“ zu verwenden - welches wir sofort mit Jesus Christus assoziieren - um dadurch im Leser das Verstehen zu wecken für die außerordentlichen Höhen, nach denen ein Sucher zu streben vermag. Auf der einen Seite ist dieser Anspruch also rhetorisch überhöht, auf der anderen Seite wird er gewissermaßen gerechtfertigt durch die natürliche Größe der Sonne und der Erde, die hier eine wahrhaft universelle Perspektive eröffnen. Die Kraft des Gedichts als Einheit entspringt diesem korrekten Ineindandergreifen der Bilder und damit unserem Gespür als Leser dafür, dass unsere spirituelle Entwicklung auf inneren Gesetzen beruht, die dem naturgesetzlichen Lauf der Sonne entsprechen.

[23]Peter Dixon, Rhetoric (London: Methuen, 1971), p.9.
[24]New York, January 15, 1978. Remarks made at an award evening for spiritual poetry.
[25]Jennifer Uglow, ed., Walter Pater: Essays on Lterature and Art (London: Dent, 1973), p.63.
[26]Op.cit. p.21.
[27]Bowra, p.221.