Sri Chinmoys Arbeit mit zusammengesetzten Begriffen I

...aus..."Simplicity and Power: The Poetry of Sri Chinmoy 1971-1981"

Eines der charakteristischsten und lebhaftesten Merkmale von Sri Chinmoys Lyrik ist die Verwendung zusammengesetzter, mittels Bindestrich verbundener Hauptwörter. Obgleich dies nicht allein in seinem Werk, sondern bereits bei Hopkins, Pound oder Emily Dickinson zu finden ist, hat niemand so oft und mit solchem Eifer davon Gebrauch gemacht wie er. Die Verwendung dieser Struktur scheint bei Sri Chinmoy eine Antwort zu sein auf zwei grundverschiedene Wesenszüge seines Werks. Der erste Wesenszug ist die Reduktion, ein Streben nach Verdichtung und Sparsamkeit, der zweite und scheinbar dem entgegenstehende Wesenszug entspringt der Natur seiner spirituellen Vision, welche ausladende Bewegungen zu erfordern scheint, die Vision nicht nur wiederzugeben, sondern auszudehnen und ständig Neues dazu in Beziehung zu setzen. J.A.Burrow erinnert uns daran, dass

"spiritual discourse differs from its everyday counterpart in being radically metaphorical throughout."[34]

sich spiritueller Ausdruck von der Alltagssprache durch seinen durchgängig metaphorischen Charakter unterscheidet.

Spirituelle Literatur drückt sich sowohl mit dem Zweck des Erklärens wie des Erforschens aus und neigt aufgrund der Unergründlichkeit des Gegenstands zu kurzen, enigmatischen Formen. Das zusammengesetzte Hauptwort ist der Ausdruck und zugleich die Auflösung dieser scheinbar konkurrierenden inneren Kräfte.
Der Teleskopeffekt einer Nomen-Plus-Nomen-Kombination ist im folgenden Gedicht aus Sri Chinmoys Band "From the Source to the Source" gut zu erkennen:

NOW YOU ARE CAUGHT

Man's darkening thought
Has blighted your Purity-heart
Now you are caught
By ruthless destruction-dart.[35]

Das zentrale Bild des Gedichts ist das von negativen Kräften bedrängte spirituelle Herz. Der Kern des Gedichts ist also ein einziges Wort: Herz ("heart"). Das Herz soll weiter charakterisiert werden als "reines Herz". Hier muß der Dichter nun eine Wahl treffen: "pure heart" oder "heart of purity". Die Konstruktion Adjektiv plus Nomen ist kompakt, aber es fehlt ihr an der energetischen Dichte, nach der der Dichter strebt. Die Genitivkonstruktion, die die Worte "heart" und "purity" direkter miteinander identifiziert, verliert durch das vermittelnde Glied "of" an Stärke. Lässt man dieses vermittelnde Glied weg und stellt die Worte so um, dass das zentrale Wort "heart" übergeordnet ist, so erhalten wir "purity-heart", eine kraftvolle Verschmelzung beider Gedanken. Durch diese, unmittelbare Identifikation stiftende Konstruktion wird die Eigenschaft der Reinheit mit Nachdruck auf das Herz übertragen.

Um dieses zusammengesetzte Wort herum sind zwei Bewegungen des Angriffs angeordnet: "Man's darkening thought" und "ruthless destruction-dart". Vom einen wird das reine Herz zum Verkümmern gezwungen ("blighted"), vom anderen gefangengesetzt ("caught"). Es entsteht ein brilliantes Bild vom belagerten Herzen. Alles in diesem Gedicht antwortet darauf, wie der Dichter einen solchen Vorgang selbst wahrgenommen hat. Selbst auf der phonetischen Ebene ist das Herz umzingelt von harten Reimen und Parareimen: thought/blighted/heart/caught/dart.

Das zweite zusammengesetzte Hauptwort "destruction-dart" erhöht noch den daramtischen Charakter des Gedichts. Diese Art zusammengesetzter Hauptwörter funktioniert wie eine Entsprechung, die zwischen zwei Objekten hinsichtlich gemeinsamer Eigenschaften oder Qualitäten einen Vergleich anstellt. So kommt es, dass der Dichter an einem bestimmten Punkt die Erfahrung der Zerstörung ("destruction") als "dart-like" erkennt. Der Dichter vermeidet aber den wörtlichen Vergleich durch das Vergleichswort „like“. Er will noch weiter gehen und klarstellen, dass zwischen den beiden Elementen des Vergleichs ein solch hohes Maß an Übereinstimmung besteht, dass sie eins geworden sind: Zerstörung ("destruction") ist ein Pfeil ("dart"). Das Zuschlagende im Akt der Zerstörung wird dargestellt durch dieses doppelte Nomen und die Wirkung noch dadurch vestärkt, dass beide Worte mit dem gleichen Konsonanten beginnen.

Dieser Prozess der Verständnisbildung liegt ganz offensichtlich nicht in der Wörtlichkeit. Wie aber Edwin Gerow [36] erläutert, ist das Nichtwörtliche ein notwendiger Bestandteil von Lyrik, die ja nach Zusammenhalt, Einheit und Genauigkeit strebt ("coherence, unity, and accuracy").

Die Relevanz solch verschlungener Bezüge ist ein Kernproblem der Lyrik. Der Dichter vertaut hier zwei verschiedene Dinge aufs engste und wischt damit aus dem Kopf des Lesers all die irrelevanten Konnotationen, die jedes einzelne Wort für sich gehabt hätte, mit dem Ziel, ein gemeinsames Drittes zu erzeugen.

In vielen Fällen ist es diese Wahrnehmung eines gemeinsamen Aspekts der Elemente einer Wortkette, die dem Leser die Bedeutung des gesamten Gedichts erschließt. Die Augen lesen die beiden Worte als Einheit, als kontinuierlichen Vorgang. Das Prinzip der Wortkette mag daher am präzisesten verstanden werden als Methode, die Bewegung in Dingen aufzuzeigen oder Dinge in Bewegung, statt als statische Formulierung spiritueller Konzepte. Beispiele dieser eigentümlichen Synergie gibt es in Sri Chinmoys Werk zuhauf:

WISDOM IS REALISATION

For a knowledge-teacher he did not care.
He had a wisdom-tutor rare.
Knowledge is preparation, uncertain and slow.
Wisdom is realisation and perfection-glow.[37]

Die Nuancen sind subtil gewählt: ein Lehrer ("teacher") vermittelt Information und prüft den Schüler, ein Tutor unterstützt den Schüler oder Studenten und ermutigt ihn, eigene Entscheidungen zu fällen, in gewisser Weise sich selbst zu prüfen. Wissen ("knowledge") sind Daten, die man von außen durch den Lehrer erhält. Weisheit ("wisdom") ist Erleuchtung, die durch einen Tutor von innen heraus zutagegefördert wird. Wissen kommt Stück für Stück, ungewiss und langsam ("uncertain and slow"). Weisheit wächst unaufhaltsam wie das Aufleuchten einer Lampe. Indem der Leser diese Parallelen in ihrer Verschiedenheit ergründet, entfalten sich in ihm Gedanken in zusammenhängend geordneter Folge.

Die Wortketten dieses Gedichts funktionieren, indem sie zwei ursprünglich unklar zueinander in Beziehung stehende Gedankenlinien zu einer einzigen, schlüssigen Einheit verschmelzen. Der Leser wird infolgedessen gezwungen, sich seine Erklärung der geschaffenen Wortverbindungen selbst zu erarbeiten und die verwendeten Symbole mit seinen eigenen Assoziationen zu füllen.

[34]"Fantasy and Language in The Cloud of Unknowing" Essays in Criticism, 27 (Oct. 1977): 286.
[35]From the Source to the Source, p.279.
[36]A Glossary of Indian Figures of Speech (The Hague: Mouton, 1971). The following quotation may be found on pages 141-142, but I am indebted also to Gerow's detailed explanations of "upama" (simile) and "rupaka" (metaphor) for an understanding of the development of the compound noun within the Sanskrit language.
[37]From the Source to the Source, p.290.