Sri Chinmoys Einsatz von Parallelstrukturen

...aus..."Simplicity and Power: The Poetry of Sri Chinmoy 1971-1981"

Sri Chinmoy verwendet Parallelstrukturen verschiedener Ausprägung. Eine davon sind Reihen von Bildern, die wie Listen auf- oder absteigend angeordnet sind. Im folgenden Gedicht besteht die absteigende Reihe aus den Wesensteilen des Menschen:

VOICES

The voice of my soul
Is always energising.

The voice of my heart
Is always encouraging.

The voice of my mind
Is always discouraging.

The voice of my vital
Is always challenging.

The voice of my body
Is always trembling.(p.30)

In jedem der Zweizeiler finden wir lediglich zwei Variable - die menschlichen Wesensteile und deren qualifizierende Adjektive. Beide stehen am Ende der Zeile und werden so für den Leser typographisch verbunden. Es gibt eine logische „Leiter“, die die einzelnen Zweizeiler miteinander verknüpft (soul-heart-mind-vital-body) sowie die Zusammenhang stiftenden weiblichen Endungen der Adjektive. Zusätzlich ist es die völlig gleichmäßige Parallelstruktur, die rhythmischen Gleichklang erzeugt und dem Gedicht dadurch harmonische Geschlossenheit verleiht. Und gleichzeitig wird der Leser durch die syntaktischen Pausen angeregt, jede zweizeilige Einheit als vollständig und selbständig zu begreifen und nicht als bloßes Bauteil einer übergeordneten Gedichtform. Jede dieser maximenhaften Einheiten besitzt in sich eine Abgeschlossenheit, einen eigenen Nachdruck, der weitere Aussagen beinahe verhindert. Liest man diese Einheiten in ihrer Abfolge, so verschmelzen sie aber trotzdem zu einer Serie, die die fraglose Selbsteinschätzung des Lesers intuitiv herausfordert. In den Händen eines Künstlers wird diese leiterartige Struktur der Komposition zu einem hervorragenden Werkzeug, um dem Leser einen Schock zu versetzen und in eine völlige Neubewertung seiner selbst und der Welt zu treiben. Die Verwendung solcher Sequenzen mit all ihren Vorteilen sind für den Dichter kennzeichnend:

DEPENDING WHERE YOU LIVE

Helplessness of ages
You are bound to feel
If you live in the body.

Aggressiveness of ages
You are bound to feel
If you live in the vital.

Blindness of ages
You are bound to feel
if you live in the mind.

Fruitfulness of ages
You are bound to feel
If you live in the heart. (p.355)

In diesem Gedicht verbindet Sri Chinmoy mit jedem Wesensteil des Menschen eine ganz eigene Welterfahrung. Das Gedicht eröffnet mehrere Optionen zur Wahl und der Leser muß entscheiden, welche der angebotenen Erfahrungen er machen möchte. Der Dichter übt eine gewisse Kontrolle über die Wahl des Lesers aus ohne seine persönliche Empfehlung auszusprechen. Er arrangiert die Wahlmöglichkeiten lediglich so, daß sie den Leser schrittweise durch verschiedene nicht zufriedenstellende Alternativen hindurch zur einzig möglichen Wahl führt, nämlich der "fruitfulness of ages", welche der Erfahrung des Herzens entspricht.

Die rhetorische "Leiter" steht hier vor allem im Dienst der Überzeugungskraft. In anderen Gedichten wird sie eingesetzt, um das Bewusstsein des Lesers für die Vielfalt möglicher Erfahrungen zu schärfen und dadurch seine noch vollständigere Zustimmung hervorzurufen. Im folgenden Gedicht dient die sehr bildhaft ausgeschmückte Sequenz "heart-mind-vital-body" dazu, der zentralen Idee der in Reglosigkeit gefangenen menschlichen Natur Nachdruck zu verleihen:

WHEN?

Heart, my heart,
When are you going to cry?

Mind, my mind,
When are you going to search?

Vital, my vital,
When are you going to strive?

Body my body
When are you going to serve? (P.289)

In der rhetorischen Figur der "Quaesitio" werden hier Fragen aneinander gereiht; ohne Unterbrechung, denn keine von ihnen erlaubt eine einfache Antwort. Wir werden Zeuge, wie der Dichter seine verschiedenen Wesensteile nach und nach anfleht, doch vorwärts zu streben, der Körper durch sein Dienen, das Vitale mittels seines Ringens undsoweiter. Wir ziehen von selbst den unausgesprochenen Schluss, dass sich die Wesensteile momentan in schlafender Reglosigkeit befinden. Wenn die Zerteilung des menschlichen Wesens in solch strikt voneinander getrennte Bereiche allzu formal erscheinen mag, so stellt der Ton des Gedichts, das zärtliche "Heart, my heart", seine Geschlossenheit wieder her. Durch die völlige Kontrolle der Komposition durch den Dichter wird diese noch verstärkt: der präzise Parallelismus führt nicht zu einer beliebigen Steigerung, sondern führt stets zurück zu der rhythmischen und thematischen Handschrift des Gedichts und schafft dadurch Einheit.

Die Starrheit der Elemente einer Parallelkonstruktion verleihen dem Gedicht als Ganzem eine Art energetische Dichte. Im folgenden Beispiel setzt eine stark reduzierte Sprache eine Serie innerer Fragen in Gang, die Antworten des Dichters wirken wie rhythmische Synkopen dazu:

ECSTASY

What is Peace?
Fulfilment-ecstasy.

What is Light?
Truth-ecstasy.

What is Delight?
Love-ecstasy.

What is Perfection?
God-ecstasy. (p.61)

Die extreme Verdichtung jeder Strophe zwingt den Leser, zu reflektieren, in welchem Verhältnis die verschiedenen spirituellen Qualitäten zur ekstatischen Freude ("ecstasy") stehen. Indem wir diese inneren Zusammenhänge entdecken, entsteht auch eine tiefe Beziehung der Qualitäten untereinander: alle stehen für eine bestimmte Variation der ekstatischen Erfahrung.

Man findet ein weiteres Anwendungsbeispiel für diese Technik im folgenden Gedicht, in welchem Sri Chinmoy eine ringförmige Struktur erschafft, um damit seinen affirmativen Ton hervorzuheben. Der Kern des Gedichts besteht aus drei Zeilen, die durch Anapher (Wiederholung der eröffnenden Wendung "This time it will...") miteinander vertaut sind:

O PILGRIM OF ETERNITY

O my Soul, O Pilgrim of Eternity,
Do give my earth-life another chance.
This time it will understand your supreme cause.
This time it will glorify your dream.
This time it will offer your nectar-light
To humanity's hungry heart.
O my Soul, O Pilgrim of Eternity,
Do give my earth-life another chance. (p. 357)

Die Verwendung zweier Zeilen, die wie ein Refrain das Gedicht umschließen, ist ein Effekt, der den emotionalen Nachdruck der Anrufung des Dichters in hohem Maße unterstützt. Durch den dreimaligen „Schwur“ („This time...“) erfahren die Zeilen des Refrains eine gewisse Einfärbung, die aus der hocherhabenen Eingangsansprache des Dichters am Ende ein zärtliches Bitten machen. Die parallele und doch zirkuläre Struktur des Gedichts, mit seiner liedhaften Wiederkehr des Anfangs, hält uns das Thema vor Augen, erlaubt uns, darüber nachzudenken und ermöglicht subtile Abschattierungen in Ton und Bedeutung.

Sri Chinmoy verwendet die Parallelstruktur in unendlicher Vielfalt. In einigen Fällen komponiert er Ketten, in denen das letzte Wort eines Satzes zum Ausgangspunkt des nächsten wird:

THE ONLY WAY

Kneel down!
This is the only way to learn.

Learn!
This is the only way to become.

Become!
This is the only way to offer.

Offer!
This is the only way to be. (p. 150)

Diese Form der logischen Verkettung erhöht die Klangfülle des Gedichts, diesen freien, sich an sich selbst erfreuenden Geist, der den Dichter zu seinem beinahe mathematischen Arrangement treibt. Die Stärke des Gedichts liegt in seiner Pyramidenform, in der jeder neue Vorstoß den vorangegangenen aufnimmt. Die vorwärtstreibende Kraft ist das Verb. Es ist also das Handeln, das die Energie von Strophe zu Strophe trägt.